Freitag, 8. Februar 2008

Mexicanische Männer sind Sex-Schweine

Diesen Eindruck bekommt man, wenn man den Artikel Nahverkehr in Mexiko: Keine Lust auf den Sexbus auf Spiegel-Online liest.

So beginnt er (ich zitiere):
Nirgends ist mehr Nähe als im öffentlichen Nahverkehr von Mexiko-Stadt. Weibliche Fahrgäste sind in Bussen und Bahnen Freiwild, werden angegrabscht, sexuell belästigt.

Weiter unten steht dann:
Bus- und Bahnhaltestellen sind in der Metropole Mexiko-Stadt Orte der Angst, vor allem für Weiße, Reiche und Touristen, die eingeschüchtert sind von erschreckenden Polizeiberichten und die Metro deshalb nicht nutzen. Für Frauen ist das Warten auf dem Bahnsteig, das Gedränge in den U-Bahn-Waggons ein Spießrutenlaufen: Sie sind die Beute.


So ein Humbug!

Offenbar ist der Klatsch-Reporter (so ist sein Stil; möglichst dramatisch-schlimm die Situation aufplustern) namens Olaf Sundermeyer sehr selten, vielleicht noch nie mit dem ÖPNV in Mexico City unterwegs gewesen.
Ich schon. Fast täglich. Und ich bin "weiß". Und habe cara de turista.

So, Herr Sundermeyer, fangen wir mal an:

  1. Seit Jahren gibt es in verschiedenen Linien der Metro zu Stoßzeiten (von 6:00 bis 10:00 Uhr, von 18:00 bis 21:00 Uhr) zwei komplette Waggons (je nach Linie am Anfang oder am Ende des Zuges), die für Frauen reserviert sind. Das hat mit dem "Liberalen" Ebrard (vorher war er "Sozialdemokrat" und "links"; heute ist er "liberal") wenig zu tun (die Aktion "Leer de Boleto" gibt es auch schon länger als Ebrard Bürgermeister ist)und scheint mir sehr gut zu funktionieren. Als jemand, der -wie gesagt- fast täglich die Linie 3 benutzt, kann ich behaupten, dass die Waggons der Frauen immer leerer sind als die "Misch"-Waggons.
    Ich weiß nicht, wie das in anderen Linien um die von Ihnen genannte Uhrzeit ist, aber ich vermute sehr ähnlich.

  2. Frauen rempeln und drücken genauso wie Männer. Sie stehen da in nichts nach. Ich kenne verschiedene Frauen, die mit Absicht die Frauen-Waggons meiden, weil dort noch mehr gedrückt wird und mit härteren Bandagen vorgegangen wird (mir wurde von Fußtritten, Gesicht-Kratzen, Schubsen von Schwangeren und Auf-die-Füße-Treten mit Stöckelschuhen berichtet) als in den "Misch"-Waggons.

  3. Morgens sind Mexicaner frisch geduscht und riechen nur selten streng. Das von ihnen beschrieben "Geruchsmelange" kommt abends vor. Oder hat es damit zu tun, dass Sie sonst nur im Privat-PKW unterwegs sind und sich für den Klatsch-Report dazu herablassen mußten, einmal den ach-so-unsicheren ÖPNV zu benutzen?
    Von welchen "erschreckenden Polizeiberichten" reden Sie, weswegen "Weiße, Reiche und Touristen" die Metro nicht nutzen? Bitte mehr als zwei Beispiele aus den letzten sechs Monaten!
    Und: wenn die Metro so voll ist, dass keiner mehr hineinpaßt, wie schafft es dann ein CD-Verkäufer, in den Zug zu kommen?

  4. Die Linie 5 kommt an der Station Hidalgo gar nicht vorbei. Die Linie 1 oder B, die beide an der Station San Lázaro vorbeiführen, auch nicht. Dafür reicht ein kurzer Blick auf den Netzplan aus Ihrer Fotogalerie.

  5. Um im ÖPNV schwanger zu werden muß schon mehr passieren, als dass man begrabscht wird. Wo haben Sie das denn her? Da stand einmal was in einem Klatschblatt und halb Mexico City hat sich kaputtgelacht darüber, aber es paßt wohl gut in Ihr Klischee vom bösen, gefährlichen ÖPNV.

  6. Wo bitte ist die "Verkehrsinsel zwischen den wuchtigen Bürogebäuden der Zeitung "El Universal" und der Versicherung Metlife"? Ich arbeite zwei Blocks weg vom El Universal und sehe das Gebäude aus dem Bürofenster; das Gebäude von Metlife ist aber nicht hier, sondern in Polanco.

  7. Begriffe wie "Sexobus" und "Gehörnte" sind meinen Kolleginnen hier im Büro, die tagtäglich mehrmals in Metro und peseros unterwegs sind (wir beliefern Buchgeschäfte mit Büchern) unbekannt. Sie meinen auch, dass manche Frauen es zulassen, begrabscht zu werden und das der Grund sei, weswegen sich Männer das immer noch erlauben. Wenn sie einmal einen Schlag ins Gesicht bekommen haben, werden sie sich das beim nächsten Mal überlegen.
    Weder meine Kolleginnen und Kollegen noch ich wissen von "solchen Geschichten", von denen die "Zeitungen voll" sind (Welche? El Alarma? Ovaciones? La Prensa? El Gráfico?), bei denen Passagieren des Frauenbusse hinterhergeschlichen wird. Besonders meine Kolleginnen denken (einige davon jung und hübsch), das ist Paranoia pur.
    Es wäre gut gewesen, mehrere Augenzeugen unabhängig voneinander zu befragen als das zu übernehmen, was Ihnen Ihre Informantin "Clara" sagte. Für Stammtisch-Gerede ist das gut genug, für ein Online-Magazin vom Schlage des Spiegel nicht.

  8. Von den -seien wir einmal geizig- 20 Millionen Einwohnern der Stadt, benutzen täglich sechs Millionen die Metro (plus die, die in peseros und anderen Bussen unterwegs sind). Ich stimme zu, dass es schlimm ist, dass eine Million Frauen von Erfahrungen mit Gewalt in der Metro sprechen (die nicht nur von Männern ausgeht; siehe oben); davon gut 300.000 ("jede dritte Frau" Ihrem Artikel zufolge) wurden eigenen Angaben zufolge sexuell belästigt. So.
    Nun rechnen wir einmal nach: nicht einmal 0,05% der Frauen wurden belästigt. Man muß auch die Verhältnisse sehen; rohe Zahlen hören sich immer schlimm an, besonders im Moloch Mexico City. Ich wette, in Berlin werden -prozentual am Fahrgastaufkommen gemessen- mehr Frauen belästigt als in Mexico City.


Alles in allem: extrem schlecht recherchiert von jemandem, der entweder ganz neu in der Stadt ist (oder nur auf Durchreise für ein paar Tage) oder einer fresita, der den öffentlichen Nahverkehr nur aus Gerüchten aus seinem fresa-Bekanntenkreis kennt.
Beim nächsten Mal sollten Sie sich wirklich auf das Niveau der Leute hinunterbegeben, um einen autentischen Bericht verfassen zu können und nicht einen, der voller Klischees, Halbwahrheiten und Vorurteile ist.

P.S. Große Teile dieser Antwort habe ich als Leserbrief an Spiegel-Online verschickt.

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4 Kommentare:

Anonymous Anonym schrieb...

Hallo Roland,

ich habe heute auch diesen Bericht gelesen und ich musste zum Teil schmunzeln, welchen Mist die Reporter wieder aus dem Ausland berichten. Ich war selbst mehrere Monate aus beruflichen Gründen in Mexiko-City und ich habe nie was von "sexobus" oder anderen Kram gehört.

Ich bin selbst mit der Metro gefahren und mir ist ehrlich gesagt nichts Sonderliches passiert ( außer, dass ein Polizist mit einer Mexikanerin rum gemacht hat, aber das passiert überall auf der Welt).

Man kann nur über diesen Bericht schmunzeln. Ich wüsste auch nicht, wie man im Bus schwanger wird; über so einen Mist kann man nur lachen. So entstehen Gerüchte und Gerüchte verbreiten sich in dieser Welt äußerst schnell...

8. Februar 2008 um 15:53  
Anonymous Anonym schrieb...

(handgemachtes trackback)

Etwas mir doch ein wenig verwunderliches moechte ich noch ergaenzen. Herr Sundermeyer oder seine Hauptdarstellerin oder beide zusammen waren anscheinend in der Lage, die Pressemitteilung der Stadt ausfindig zu machen. Laut Herrn Sundermeyer wuerde es dort heissen:
In der Pressemitteilung der Stadt ist von "alle 18 Minuten" die Rede.

Auch ich habe mir die Muehe gemacht, Boletín 60 der Jefatura de Gobierno del D.F. namens "Arranca GDF Programa Atenea, Transporte Exclusivo para Mujeres, Sobre Paseo de la Reforma" ausfindig zu machen. Das ist nicht wirklich schwer. Dort steht allerdings nichts von irgendwelchen 18 Minuten, sondern nur, wie viele Busse auf den beiden bis zu jenem Zeitpunkt befahrenen Routen verkehren wuerden.

Das komische an der Sache aber ist der Umstand, dass man trotz Vorliegen der Pressemitteilung inkl. der Abfahrtszeiten nicht erkannt haben wollte, wo die Busse abfahren.... weiterlesen

8. Februar 2008 um 23:20  
Blogger Hollito schrieb...

"Orte der Angst" - hihihi, das sind wohl eher deutsche Kaufhäuser bei Beginn des Schlußverkaufs. ;-)

Ziemlicher Humbug, der Bericht. Ich bin ja mit Lita auch schon öfter kreuz und quer durch DF gefahren, und meine Erfahrungen waren ausschliesslich positiv. Ich wurde oft gefragt, woher ich denn komme (oder gleich als Deutscher identifiziert) und mir wurde dann erzählt, wie gerne man mal nach D fahren würde, oder, daß man schon da war, und es dort sehr schön fand.
Ansonsten wurde zu mir immer Abstand gehalten, was auch daran liegen mag, daß ich 2m lang und 100kg schwer bin. ;-)

Der einzige "Ort des Schreckens" war ein collectivo in Puebla, dessen Fahrer wirklich fuhr wie eine gesengte Sau - da war ich froh, als ich aussteigen konnte. :-)

9. Februar 2008 um 14:43  
Blogger Hollito schrieb...

Ergänzung: Auch in den USA und Kanada gibt es diese "Sensationsberichte" - wenn ein "spring breaker" sturzbesoffen vom Balkon segelt, wird daraus auch gleich "MX ist gefährlich für Touristen" gemacht. Nachzulesen z.B. bei http://burrohall.blogspot.com (dessen in MX lebender Autor sich darüber lustig macht...)

10. Februar 2008 um 12:58  

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